Die Online-Kulturzeitung für Stuttgart und Umgebung


Die Kesseltöne lesen Bücher

Hilft Kultur beim Leben, und was sollte man dazu essen? Ute Harbusch und Petra Heinze wollten es wissen und haben zwei Romane von Muriel Barbery zum Thema gelesen.

Ute Harbusch: Liebe Petra, wir haben zuerst Barberys Welterfolg „Die Eleganz des Igels“ von 2006 gelesen und danach ihr Debüt „Die letzte Delikatesse“. Uns beiden hat der Welterfolg sehr viel besser gefallen. Wie erklärst Du Dir das?

Petra Heinze: Beide Romane spielen weitgehend im selben Haus mit demselben Personal. Im Erstling ist die Hauptfigur ein weltberühmter Gastrokritiker, der im Sterben liegt, im nächsten Buch begleiten wir eine hochgebildete ältere Dame, die als Concierge in besagtem Haus ihr Licht unter den Scheffel stellt. Der Gourmet ist eigentlich genussunfähig und ein sehr unangenehmer Charakter, der an seiner Arbeit mehr die Macht über die Edelköche schätzt als die Kultur des Essens. Entsprechend bleibt seine Beschreibung delikatester Speisen Wortgeklingel. Mit der weisen Concierge, die die Kultur wirklich eingeatmet hat und wie nebenbei einen höchst amüsanten Ritt durch die Geistesgeschichte bietet (die Autorin ist von Haus aus Philosophieprofessorin), kann man sich eher identifizieren. Außerdem macht sie im Buch eine Wandlung durch. Bei dem Feinschmecker ist dagegen alles zu spät, weil er ja im Sterben liegt. Wie siehst Du die Rolle der Kultur in den Büchern?

Ute Harbusch: Das eigentliche Talent des genussunfähigen Restaurantkritikers liegt im Schreiben. Er hätte Schriftsteller werden sollen, sagt jemand über ihn. Trotzdem muss er feststellen: Das beste Essen, das er je erlebt hat, ragte nicht durch die Qualität der Speisen heraus, sondern durch die herzliche Gemeinschaft, in der es stattfand. Der Begriff „Ess-Kultur“ bekommt hier also schon einmal einen neuen Sinn. Bei Madame Michel, Concierge im superreichen 7. Arrondissement von Paris, ist es so, dass sie sich eimerweise Hochkultur einverleibt, von Tolstoj über Mahler bis zu den Filmen von Yasujiro Ozu, von barocken Stilleben bis zur Phänomenologie von Husserl. Aber nur heimlich, im Hinterzimmer, während vorne, wie es eben dem Bild einer Concierge entspricht, den ganzen Tag der Fernseher läuft. Mit der Zeit schließt sie Freundschaft mit der zweiten Hauptfigur des Buches, einer Zwölfjährigen aus einem der Luxusappartements. Paloma verachtet das oberflächliche Intellektuellen-Getue ihrer Umgebung. Sie ist selbst eine Überfliegerin, versucht das aber zu verstecken. Warum machen das diese beiden Frauen, die eine am Anfang, die andere eher am Ende ihres Lebens?

Petra Heinze: Die Concierge hat Schuldgefühle, weil es ihre Schwester im Leben so schlecht hatte. Das junge Mädchen ist eigentlich kein „Underachiever“, wie das Soziologen heute nennen. Sie korrigiert sogar völlig unverblümt ihre Lehrerin und findet die Eltern und ihre Schwester schlichtweg doof. Beide Figuren haben jedoch ihre Angst vor dem Leben gemein. Paloma will sich sogar umbringen, wenn sie dreizehn Jahre alt wird, und versteckt sich vor ihrer Familie im Schrank …

Ute Harbusch: Das heißt, kulturelle Bildung führt nicht unbedingt zu einem guten Leben. Eine Erfahrung, welche die beiden Protagonistinnen vermutlich mit vielen gebildeten Leser:innen teilen, was ein Grund für den Erfolg des Buches sein könnte. Was hilft denn den beiden Igeln dabei, aus ihren Verstecken zu kriechen und das Leben zu wagen?

Petra Heinze: Offenbar die gelebte Gemeinschaft mit anderen: Das Mädchen lernt in der Concierge eine Seelenverwandte kennen und diese wiederum in einem neuen Hausbewohner: einem schwerreichen japanischen Unternehmer, mit dem sie zahlreiche kulturelle Vorlieben teilt und der sie wie eine Königin behandelt.

Ute Harbusch: Also Ende gut, alles gut, der Märchenprinz hat Aschenputtel erlöst, und wenn sie nicht gestorben sind … Doch mitten im sich anbahnenden Liebesglück stirbt Madame Michel bei einem Autounfall. Ich kann der Autorin diese brutale Wendung kaum verzeihen. Auch wenn der Kniff, die Sterbende ihren eigenen Tod erzählen zu lassen, sehr wirkungsvoll war. Wie hast Du dieses Ende verstanden?

Petra Heinze: Vielleicht sind die beiden Frauen einfach das junge und das alte Ich derselben Figur mit unterschiedlichen Lebenswegen. Das junge Ich wird es dann besser machen …

Foto: Pixabay


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Aktuelle Beiträge

  • Balance aus Pracht und Maß
    Mit dem Kammerchor und dem Barockorchester Stuttgart hat Frieder Bernius erneut eine Messe und weitere Werke von Jan Dismas Zelenka auf CD herausgebracht. Susanne Benda ist hellauf begeistert.
  • 200 gut singende Leute als Basis
    Der Schweizer Komponist Klaus Huber wäre am 30. November 2024 einhundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass gibt es in der Bad Cannstatter „Musik am 13.“ Hubers Werk „Sonne der Gerechtigkeit“. Die Kesseltöne haben den künstlerischen Leiter Jörg-Hannes Hahn dazu befragt.
  • Das Herbsträtsel: Wer schrieb das?
    Sie waren mehr als Freunde, mehr als Vertraute, mehr als Verbündete und mehr als Liebhaber. Wenn Beziehungen ein Puzzle sind, dann war ihres von Anfang an vollständig.
  • Die Kesseltöne lesen: Die große Versuchung
    Weil zwei Konzerte abgesagt wurden, haben Ute Harbusch und Petra Heinze den jüngsten Roman des peruanischen Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa gelesen. Wäre Live-Musik ergiebiger gewesen?
  • Stehenbleiben wäre unkreativ
    In „Goldbergs Traum“ verbindet das Stuttgarter Kammerorchester Bachs Goldberg-Variationen nicht nur mit zeitgenössischen Kompositionen, sondern auch mit Künstlicher Intelligenz. Jürgen Hartmann sprach darüber mit SKO-Intendant und Initiator Markus Korselt.