Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, Foto: Musik der Jahrhunderte
Unabhängig voneinander besuchten Susanne Benda und Jürgen Hartmann im Netz ein Konzert ohne Publikum in der Berliner Philharmonie: Simon Rattle dirigierte Werke von Berio und Bartók mit den Berliner Philharmonikern und den Neuen Vocalsolisten Stuttgart.
Ein „ganz besonderer Abend“, „denkwürdig, nie dagewesen“, so wurde das Konzert kurzfristig angepriesen. Um die Musik drehten sich diese Sätze nicht.
Nein, das gepflegt aufgeregte Marketingsprech von Intendantin und DLF-Redakteur zielte auf die leeren Zuschauerränge der Berliner Philharmonie. Publikum war zwar am 12. März, als Simon Rattle Werke von Luciano Berio und Béla Bartók dirigierte, schon nicht mehr zugelassen; das gemeinsame Musizieren jedoch war noch möglich. Der Abend fand quasi als live übertragene Studioproduktion statt.
Auch wenn fast vier Wochen später die oben zitierten Formulierungen seltsam unangemessen scheinen: Insbesondere Berios 1968 uraufgeführte „Sinfonia für acht Stimmen und Orchester“ fühlt sich im In-Eins-Fallen von bewusster Wirrsal und überraschendem Humor auf anrührende Weise aktuell an.
Der Begriff der Schönheit wurde im 20. Jahrhundert heftig problematisiert und hinterfragt, und gerade die Neue Musik galt ihren Kritikern nichts weniger als schön. Von hier und heute aus, und in der tadellosen Darbietung durch die Berliner Philharmoniker, die Neuen Vocalsolisten Stuttgart und Sir Simon Rattle, tönt ein Werk wie dieses aber tatsächlich so schön, als sei es von Bach-Beethoven-Brahms.
Vielleicht muss man in Berios „Sinfonia“ heutzutage vor allem diese Schönheit aufzuspüren versuchen, denn der bildungsbürgerliche Horizont, der den Zugang zu ihrem komplexen Spiel mit musikalischen und literarischen Zitaten ermöglichen würde, ist verloren. Man darf die Virtuosität von Komposition und Aufführung bestaunen. Und man darf schmunzeln über die Anspielungen auf die konkrete Situation, mit Hinweis auf das Konzertprogramm und Dank an den Dirigenten.
Vielleicht ist es an der Zeit, vielleicht besteht Hoffnung, dass die Musik des 20. Jahrhunderts inzwischen so betrachtet und gehört werden kann wie das so genannte Standardrepertoire aus früheren Zeiten? Besonders, denkwürdig, nie dagewesen war dieser Abend jedenfalls wegen seiner Musik, und das ist auch gut so.
Jürgen Hartmann
Corona-Krise ohne Konzert? Von wegen. Wir streamen hier, streamen dort. Überall im Netz gibt es große Kunst gerade gratis. Das ist toll, weil es Neugierigen Türen öffnet; es ist aber auch gefährlich, weil Umsonst-Kunst auf Dauer an Wert und Bedeutung verliert. Und wenn man das letzte Live-Konzert der Berliner Philharmoniker in der zurzeit kostenfrei zugänglichen Digital Concert Hall des Orchesters anhört, dann spürt man deutlich noch etwas anderes.
Einer fehlt. Deutschlands renommiertestes Orchester hat am 12. März gemeinsam mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart zwei musikalische Meilensteine des 20. Jahrhunderts aufgeführt: Béla Bartóks Konzert für Orchester von 1943 und Luciano Berios Sinfonia von 1968. In den Sitzreihen der Berliner Philharmonie rund um die Bühne: gähnende Leere. „Wir haben“, sagt der Ex-Chefdirigent Simon Rattle, der das Konzert als Gast leitet, in seiner Einführung zum Abend, „keine Ahnung, was passiert, wenn die Musik aufhört.“ Und tatsächlich: Nachdem als Erstes Berios mit Zitaten und Reverenzen u.a. an Mahler, Bernstein, Ravel und an Richard Strauss‘ „Rosenkavalier“ gespicktes Stück erklungen ist, applaudieren nur die Musiker: sich selbst. Die Sinfonia, eigentlich ein Musterbeispiel für auskomponierte Kommunikation von Text und Musik, Gesprochenem und Gesungenem, fremdem und eigenem Material, Banalem und Artifiziellem, Vergangenheit und Gegenwart, führt ein Selbstgespräch. Um es im Fußballerjargon zu sagen: Es fehlt der zwölfte Mann. Das Publikum.
Eine Erkenntnis, die uns die waltende Krise mitsamt ihrem freundlichen Streaming-Overkill vermitteln kann, ist, dass Resonanz weniger mit Gebäudearten, Präsentationsformen und präzise gemessenen Nachhall-Sekunden zu tun hat als mit menschlicher Präsenz. Sie ist nicht mess-, wohl aber spürbar. Rattle dirigiert unglaublich präzise, die Musiker folgen, aber selbst bei Bartóks Schostakowitsch-Lehár-Parodie huscht kein Lächeln durch den Saal. Der von der Kamera in die Totale gerückte rote Kopf eines Oboisten entschädigt nicht für das Phänomen der kollektiven, fokussierten Hinwendung zur Kunst. Was passiert, wenn die Musik aufhört? Sie bleibt auch so in ihren Zuhörern. Aber der Rest ist Stille.
Susanne Benda
Hier zu hören: www.digitalconcerthall.com
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