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Wie war’s beim Lesekonzert in der Musikhochschule?

In diesem Turm lauschte Ute Harbusch vergessenen Klängen, Foto: Wolfgang Silveri

„Gegen das Vergessen – Die Botschaft der Opfer“ hieß eine Veranstaltung von Studierenden der Violinklasse von Kolja Lessing an der Stuttgarter Musikhochschule. Ute Harbusch war vor Ort und sprach anschließend mit Petra Heinze darüber.

Petra Heinze: Liebe Ute, Du warst in einem Lesekonzert. Warum hast Du es Dir ausgesucht?

Ute Harbusch: Festreden mit Streichquartetteinlagen – das ist immer noch die Dramaturgie so mancher Gedenkveranstaltung. Hier ging es auch um’s Gedenken, aber ein inhaltlicher Bezug zwischen Musik und Texten war gegeben: Gelesen wurde aus den Erinnerungen des Geigers Michael Wieck, geboren 1928, der als Sohn einer jüdischen Mutter in Königsberg den nationalsozialistischen Repressalien ausgesetzt war. Gespielt wurden Kompositionen für Geige von jüdischen Komponist:innen, die vor dem Nazi-Regime ins Ausland flüchten mussten, von Arnold Schönberg bis Ursula Mamlok. Es spielten vier Studierende der Violinklasse von Professor Kolja Lessing, der selbst im Wechsel mit Michael Wiecks Witwe Miriam Wieck die Texte las.

Petra Heinze: Der Programmzettel verspricht eine intensive Verbindung zwischen Musik und Lesung. Stellte die sich ein?

Ute Harbusch: Den Anfang machte „Ricordo IV“ von Werner Wolf Glaser von 1991, komponiert für seine Mutter und seinen Bruder, die beide im Holocaust ermordet wurden. Raphaela Debus spielte diese verhaltene Klage, in der ein einfaches Motiv aus gleichen Vierteln immer wiederkehrte – das mag ein musikalisches Erinnern andeuten. Der zweite Satz aus Sándor Veress‘ Sonate von 1935, dargeboten von Ambra Berutti, wechselte ebenfalls zwischen Klage und Aufregung und enthielt Anklänge an jüdische Gebetsgesänge. Aber von diesen gewissermaßen imitatorischen Elementen abgesehen, blieben Texte und Musik in meinen Ohren und meinem Herzen unverbunden. Avancierte Kompositionen für Geige solo und teils drastische, teils mahnende Worte haben einen extrem unterschiedlichen Grad von Konkretheit.

Petra Heinze: Was hätte man anders machen müssen, um Dein Herz zu erreichen?

Ute Harbusch: Mir hätte es vermutlich geholfen, wenn entweder die Musik oder die Worte das führende Medium gewesen wäre. Beides illustriert sich nicht automatisch gegenseitig. Auch der stete Wechsel zwischen dem einen und dem anderen hätte Auflockerung vertragen. Warum nicht einmal zwei Musikstücke direkt hintereinander? Robert Rülke spielte mit Verve die Phantasy op. 47 von Arnold Schönberg aus dem Jahr 1949, am Klavier begleitet von Kolja Lessing, ein komplexes, vielschichtiges Stück, in dem wie in einem gespenstischen Totentanz Walzerrhythmen angedeutet waren – genau wie in Ursula Mamloks „Aphorisms I“ für Violine solo von 2009. Direkt hintereinander aufgeführt, hätten die Musikstücke selbst einander antworten können. Leider aber wurde dieser angedeutete Dialog wieder von einer Lesung unterbrochen.

Petra Heinze: Also war die Musik durchaus von Belang und Herrn Lessing gebührt die Ehre, sie bekannt gemacht zu haben? Außer Schönberg sind einem die Komponist:innen ja nicht so geläufig …

Ute Harbusch: Tatsächlich gebührt Kolja Lessing das große Verdienst, Komponist:innen bekannt zu machen, deren Biografien durch das NS-Regime zerstört oder in andere Wege gezwungen wurden. Dazu gehören beispielsweise auch israelische Komponisten der ersten Stunde wie Haim Alexander oder Tzvi Avni, deren Werke er erforscht, anregt, aufführt und einspielt. Für diese Arbeit hat er neben weiteren Ehrungen zuletzt die Otto-Hirsch-Auszeichnung der Stadt Stuttgart erhalten.

Petra Heinze: Kamen denn die Studierenden mit dieser sich wohl auch ein wenig sperrenden Musik gut zurecht?

Ute Harbusch: Sie waren innig vertraut mit den Stücken, was sich rein äußerlich schon daran zeigte, dass zwei von ihnen auswendig spielten. Ihr Vortrag hatte große Intensität, so auch bei Maja Frirdich, die zum Abschluss Mamloks „From my Garden“ von 1983 vortrug, vom kaum hörbaren Pizzicato einen großen Bogen wieder zurück zum Pizzicato entfaltend. Die Interpretationen fächerten viele Ausdrucksnuancen auf, waren beredt im besten Sinne des Wortes. Wenn ich mir etwas hätte wünschen können, dann hätte ich die Stücke gerne zweimal gehört.

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