Timo Brunke und die Hölderlin-Spoken-Word-Band mit „Mitteleuropapperlapapp“ im Theaterhaus: Wahnsinn und Weltliteratur, skurril und virtuos, findet Kesseltöne-Rezensentin Angela Reinhardt.
Ein „gepflegter Abend“ soll es werden, verspricht Timo Brunke. Wird es nicht, denn der Stuttgarter Wortkünstler und Konzertpoet, so seine offizielle Berufsbezeichnung, spielt beim Auftritt im Theaterhaus derart lyrisch und exzentrisch, derart surreal und virtuos mit der deutschen Sprache, streichelt und malträtiert sie, reimt und frisiert sie, dass man öfter mal Luft holen muss zwischendurch. Begleitet von den drei Jazzmusikern Andreas Krennerich an den Saxofonen, Boris Kischkat mit Gitarre und Looper sowie Daniel Kartmann am reich ausgestatteten Schlagwerk streift der Dichter in seinem zweistündigen Programm von Kindergeschichten über den alltäglichen Wahnsinn bis zur hehren Weltliteratur.
Mit ein paar „Mixed Pickles“ macht er sich warm: winzige Szenchen über die Bahnverspätung oder das Handy als Scheidungsgrund, die sich in ein paar Sekunden ins Absurde steigern. Ein größeres Kunstwerk ist da schon die Moritat über einen Bauinvestoren, der menschenverachtend die gewachsenen Stadtbezirke abräumt, um sich am Ende in der selbst sanierten, überall identisch aussehenden Stadt zu verlieren und sie fürderhin als Geist heimzusuchen. Ganz im Struwwelpeter-Stil wird die Stimmung zunehmend schauriger. Brunke spielt mit Alexa, dem allwissenden Helferlein-Automaten der Firma Amazon, auch die Schauerballade vom Walkman auf Helgoland endet böse. „Sei rasch gelobt mir, Stress“, beginnt eine andere Hymne, beim Bericht aus einer Physik-Vorlesung geht es wie bei „Alice im Wunderland“ tief ins Erdloch hinunter, ins „pure, reine Phantasma“, bis man die Antimaterie und die Quarks husten hört.
Oft genug sind Kinder das Thema, beim nicht erziehbaren Zottelwesen etwa, zu dem das Xylophon ein sehr possierliches Interludium spielt. Das erste Kapitel von Otfried Preußlers „Krabat“ hat Brunke zur Ballade umgeschrieben, genial assistieren die drei Musiker mit dem Flattern der Raben, zaubern eine unheimliche Traumlandschaft. Durch die Brüder Grimm surfen wir im Stil von „Kuss – Klatsch – Frosch – Schatz!“, die Märchen-Schlagwörter fliegen uns, aufs Raffinierteste synkopiert gesprochen, nur so um die Ohren. In der Bronx nennen sie es Rap.
Einen Traumverkäufer treffen wir auf dem Flohmarkt, er will uns ein Staubkorn von Julias Veroneser Balkon andrehen – die italienisch getönte Werbe-Ode darauf wird zum Rundflug durch Shakespeares gesamte Tragödie. Gefühlte fünf Minuten reiht Brunke hier Stabreime auf R aneinander, lautmalerisch steigert sich der Vortrag ins große Pathos. In einer anderen Ballade bringt der Poet noch eine Anspielung auf die japanischen Trommler unter, die nebenan im großen Saal gastieren, bevor es ihn zu Pfeifgeräuschen des Saxofons aus der Kurve trägt.
Zwischen Barock und Free Jazz changiert die Musik der Hölderlin-Spoken-Word-Band, mal als Filmmusik-inspiriertes, atmosphärisches Underscoring, mal als Kontra gebendes, eigenwilliges Gegenüber, doch immer in rhythmischer Harmonie. Bei der Hommage ans Muskelkraftrad etwa spürt man geradezu den Fahrtwind im hüpfenden Rhythmus.
Aber komponieren kann Timo Brunke ebenfalls – was er an Mehrfachreimen, Schüttelreimen oder Alliterationen, an Metaphern, Allegorien oder Onomatopoesie versammelt, ist allein handwerklich erstaunlich, völlig abgesehen vom lyrischen Gehalt. Mit einem federleichten Conférencier-Charme schwenkt er elastisch die Hüften oder biegt sich wie ein Lurch, wenn es gruselig wird. Früher hieß das rhythmische Sprechen mit Musikbegleitung Melodram, heute tendiert diese Kunst in Richtung Rap oder gar Hip-Hop. Die Dichterin Amanda Gorman machte es bei Joe Bidens Amtseinführung vor, Brunke erweist sich als Meister dieser Kunst. Vermutlich wog diese Veranstaltung mit ihrer begeisterten, tiefschürfenden, verrückten Liebe zur deutschen Sprache eine ganze Tonne sprachverstümmelnder WhatsApp-Nachrichten der Generation „bin ich schulhof“ auf – was für ein Segen, dass Brunke auch Kinderbücher schreibt und viel mit Kindern arbeitet.
Über Hölderlin hätten sie sich kennen gelernt, erzählt er zwischendurch, daher der Name der Band. Mit dem Tübinger Dichter endet der Abend, mit seiner „Hälfte des Lebens“, so skurril wie wunderbar zart kombiniert mit Irving Berlins alter Melodie „How Deep is the Ocean“. Danach soll nichts mehr kommen, so ehren sie den Sprachkünstler-Urahn.
Foto: David Graeter. Mehr Infos zum Künstler unter timobrunke.de.
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