Er war da: Holger Schneider in der Sankt-Burchardi-Kirche
Ab heute sinniert Holger Schneider in lockerer Folge über schöne und schreckliche Phänomene am Rande von Corona…
Nichts weniger als „Die eingefrorene Zeit“, ja selbst „Das Summen Gottes“ wollten die Headline-Erfindergeister einer renommierten Wochenzeitung da entdeckt haben. Nicht in irgendeinem abgedrehten Megablockbuster, sondern in einer Adaption eines – wie sagen wir noch immer so schön: zeitgenössischen – Musikwerks, mithin eines von der zweifelsohne abgedrehteren Sorte. Stehst du dann selbst mittendrin in der Partitur, im Kies der Halberstädter Sankt-Burchardi-Kirche, ist alles erstmal ziemlich, naja, schon: enttäuschend. Das Skelett einer romanischen Klosterkirche, in einem indifferenten Zustand drinnen, so als habe jemand versucht, ein chancenloses Start-up in einem dafür völlig ungeeigneten Raum hochzuziehen. Neuzeitlich vergammelter Putz rieselt von uralten Steinen, triste Namenstafeln hängen an rostigen Eisenbändern, bist du gar in ein Museum für ausgefallene Sepulchralkultur geraten? (Stand 2016, mittlerweile ist die Morbidität des Komplexes ein Quäntchen instagramabler geraten.)
Dann aber zieht es dich eben hinein, sacht, unweigerlich, tief und tiefer in den Sog des Klangs, hervorgerufen durch das Duo aus Balgwerk und Klein-Orgel, jene paar Pfeifen und Pfeifchen beatmend, welche die Komposition von John Cage derzeit vorsieht: „ORGAN²/ASLSP“ (für „As SLow aS Possible“) aus dem Jahr 1987. Letztere Vortragsbezeichnung wurde von angenehm durchgeknallten Geistern mal eben auf 639 Jahre hochgerechnet, und du fragst dich ergebnislos, ob sie den musikhistorischen Background hierfür ernst gemeint haben oder eher im Sinne Cages skizzieren wollten. Und du fragst dich, warum du die Zeichnungen, Druckgraphiken von Cage in der Stuttgarter Staatsgalerie noch nie wahrgenommen hast. Und während du so mit geschlossen Augen sinnierst und versuchst, die Obertöne einzufangen, die dich im multiplen Echo der steinernen Wände umflirren und sich dabei zu verrücktesten Schwebungen kumulieren, bist du ernsthaft empört, als nach einer Dreiviertelstunde ein weiterer Mensch hereintrapst, rücksichtslos, offenbar ebenfalls unvermögens, die Bedeutsamkeit des Augenblicks sogleich andachtsvoll wahrzunehmen. Immerhin kann er Dir für ein Beweisfoto behilflich sein.
Erst kürzlich dann: eine für Coronazeiten proppevolle Kirche, stattlicher Eintritt pro verhüllte Nase für den großen Augenblick! Du warst nicht dabei, aber das macht nichts: der letzte Tonwechsel – nach sieben Jahren! Herrlich, was für ein schöner, verstörender, nachdenklich-frohstimmender Beweis für die Erlebbarkeit absoluter Entschleunigung! Aber auch: welch geradewegs ohrfeigenartiger Aha-Effekt für dich, den Musikwissenschaftler, der sich auf seiner letzten Harzreise eher zufällig dahin verirrt hatte: mitten hinein in die Musikgeschichte seiner Zeit, für einen Moment Zeuge zu werden eines sozusagen versehentlichen Meisterwerks. Und um ganz am Rande die harmlose Rechnung aufzumachen, dass Cages Zufallsgeneratorklang sich etwa 639-mal besser anhört als dein eigener kleiner Tinnitus oder Ohrwurm…
Klare Reiseempfehlung (voller Siebenklang bis Februar 2022!): www.aslsp.org
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