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Die Kesseltöne lesen einen Klassiker: Der Untergeher

Lesezeit: 2 Minuten

In gehörigem Abstand und im Freien sprechen Ute Harbusch (links) und Petra Heinze über Thomas Bernhards „Der Untergeher“, der vielleicht gar keiner ist…

Petra Heinze: Liebe Ute, ob ich dieses monströse Buch zu Ende gelesen hätte ohne unsere Verabredung? Der namenlose Ich-Erzähler des 1983 erschienenen Romans kreist in Ellipsen um dreieinhalb Lebensereignisse als gescheiterter Klaviervirtuose. Vorgeblich geht es um zwei weitere mit ihm befreundete Klaviervirtuosen, einen unglücklichen, den „Untergeher“, und einen glücklichen, den (fiktiven) Glenn Gould. Die scheinen aber eher verschieden gestimmte Anteile des Erzählers zu sein. Allen ist gemeinsam, dass sie nicht mit Menschen kommunizieren können. Der Ich-Erzähler auch nicht mit dem Leser. Auf den ersten 180 Seiten enden etwa 100 Sätze mit „sagte er, dachte ich“. Er memoriert früher Gedachtes für sich selbst, quasi Endlosschleife der Endlosschleife. Findest Du das komisch?

Ute Harbusch: Ich finde die typisch Bernhardschen Abwertungstiraden komisch. Der Erzähler braucht nur ein schmutziges Wirtshausfenster zu sehen, schon werden sämtliche österreichischen Gasthäuser in Grund und Boden verdammt. Das Leben auf dem Land ist unmöglich, das Leben in Wien ist unmöglich. Die Steigerung, die maßlose Übertreibung in der Abwertung finde ich lustig, weil ich sie nicht ernst nehmen kann. Die hundertfachen Einschübe „sagte er, dachte ich“ funktionieren ähnlich. Dieser Trick oder Tick ist für mich mehr Ausdruck einer Erzählhaltung als einer psychischen Disposition. Der Erzählfluss wird gleich zweimal ironisch gebrochen. So weit, dass ich nicht weiß, ob ich dem Erzähler überhaupt glauben darf. Und ist es nicht komisch, dass in diesem Buch über drei Klavierspieler kein einziger Takt Musik beschrieben wird?

Petra Heinze: Und wenn das ganze Buch „musikalisch“ ist? Nach den endlosen Variationen folgt ja auf den letzten 60 Seiten eine erstaunliche Wendung: Kein einziges „sagte er, dachte ich“ mehr. Stattdessen kommt der Ich-Erzähler mit realen Menschen ins Gespräch. So konnte ich das Buch doch noch liebgewinnen. Was sagt die Musikexpertin zu dieser Form?

Ute Harbusch: Danke für die Blumen. Einige Literaturwissenschaftler haben natürlich musikalische Formprinzipien im „Untergeher“ ausmachen wollen. Aber nur, weil er um drei Hauptfiguren kreist, ist der Text noch kein dreistimmiger Kontrapunkt. Zentrum der Gould-Verherrlichung in diesem Buch sind die „Goldbergvariationen“, die ja die Besonderheit haben, dass nach dem Thema und den Variationen noch einmal das Thema, die Aria, erklingt. Es geht wieder dorthin, von wo es ausgegangen war. Die Musik kommt wieder nach Hause. Am Ende des Romans kommt der Erzähler zwar nicht in sein Haus zurück, sondern in das leere Haus des Untergehers, der sich umgebracht hat. Aber ist das nicht trotzdem ein ähnlicher Kreisschluss?

Petra Heinze: Wie schlau! Erst Recht, wenn der Untergeher und der Erzähler ein und derselbe Mann sind. Und der erste Satz des Buches beginnt mit Glenn Gould, im letzten kommt er ebenfalls vor und alle drei Figuren werden vereint: „Ich bat Franz, mich für einige Zeit in Wertheimers (des Untergehers) Zimmer allein zu lassen und legte mir Glenns „Goldbergvariationen“ auf, die ich auf Wertheimers Plattenspieler liegen gesehen hatte, der noch offen war.“

Thomas Bernhard, Der Untergeher, Suhrkamp, 18. Auflage 2020


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