Die Online-Kulturzeitung für Stuttgart und Umgebung


Doppelkritik: Abschlusskonzert in der Baarsporthalle

Susanne Benda (links) lauschte dem Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage vor Ort, Jügen Hartmann (rechts) per Live-Stream. Die beiden Kritiker:innen beschreiben den Nachmittag durchaus divers.

Mehr Frauen, mehr Zusammenarbeit, mehr Improvisation und weniger Grenzen zwischen den Genres: All dies hat am vergangenen Wochenende die Donaueschinger Musiktage unter ihrer neuen Leiterin Lydia Rilling geprägt – übrigens der ersten Frau an der Spitze des vor gut 100 Jahren gegründeten Festivals. Im Abschlusskonzert, das schon in etlichen qualitativ nicht ganz so befriedigenden Festivaljahrgängen für einen versöhnlichen Ausklang gesorgt hat, konnte jedoch kein Stück vollständig überzeugen.

Am SWR-Symphonieorchester, mit dem Ingo Metzmacher vom Pult aus sehr klar kommunizierte, hat das nicht gelegen, denn dessen Musiker:innen gingen schon deshalb hochengagiert an die drei Uraufführungen heran, weil die starken Improvisationsanteile der Werke im Eröffnungskonzert sie – sagen wir mal – nicht völlig überfordert hatten. Jetzt also ein bisschen alte Schule der Neuen Musik. Für sie stand zumindest das erste Werk des Abends, „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ der Donaueschingen-Veteranin Younghi Pagh-Paan. Ein (bei Pagh-Paan ungewohnt) großflächig angelegtes, pathetisch anmutendes, anfangs dank perkussiver Akzente klar strukturiertes Werk, das aber schon nach gut sechs Minuten ziemlich unvermittelt endet. Eine geballte Faust, die plötzlich zu Boden sinkt.

Die Free-Jazz-Anklänge im ersten Teil von Steven Kazuo Takasugis Konzert für Klavier, Orchester und Elektronik sind so wild und werden so laut, dass man sich fragt, wie (und ob überhaupt) man dessen knapp 50 Minuten Dauer überstehen wird. Zum Glück beruhigt sich das zerklüftete Klang-Gebirge im zweiten Teil, und wer seinen Ohren eine Stoppuhr als Hilfe beigesellt, findet problemlos die klanglichen Entsprechungen zu den programmatischen Überschriften, mit denen Takasugi einzelne kurze Abschnitte überschrieben hat. „When the smoke clears“ zum Beispiel. Oder „The last few remaining“: Hier nimmt der Komponist einen Musiker nach dem anderen aus dem Fokus – eine eigene Art von Abschiedssinfonie. Das ist nicht nur ernst gemeint, sondern immer wieder ironisch. Raffiniert gemacht. Und höchst vergnüglich. Vor allem im Finale. Das schmückt sich nicht nur mit dem hübschen Titel „Affektenlehre“, sondern versucht sich erfolgreich auch an der musikalischen Charakterisierung literarischer Epochen wie Sturm und Drang oder Empfindsamkeit, immer sekundiert und hinterfragt von einer den Klavierpart teils narzisstisch widerspiegelnden wie eigenwillig konterkarierenden Elektronik. Ein großes Stück? Das vielleicht nicht. Wohl aber ein intelligent gemachter vieltöniger Kraftakt, den Roger Admiral am Flügel virtuos bewältigt.

Dass am Ende Francesca Verunelli für „Tune and Retune II“ den Preis des SWR-Symphonieorchesters erhielt, mag auch dem Mangel an Alternativen geschuldet sein. Und bei diesem Stück wird nicht improvisiert – Verunelli hat ihre komponierte Klangerforschung, ihre sanften Verschiebungen zwischen wiederholten Motiven und Gesten in Noten niedergeschrieben. Solcherart Interpretationsgeländer ist für Orchestermusiker:innen halt nicht Krücke, sondern Gehhilfe. Ein großes Stück ist aber auch „Tune and Retune II“ nicht.

Die neue Chefin Lydia Rilling will den Donaueschinger Musiktagen neuartige Formen der Zusammenarbeit nahebringen, die den individuellen Schöpfungsakt zugunsten einer fließenden „Collaboration“ – so das diesjährige Motto – zurückdrängen. Dazu wird im Programmbuch John Cage zitiert, der sich schon vor Jahrzehnten darüber beschwerte, dass „gegenseitige Wechselbeziehung“ und „gemeinsame Entwicklung“ nur selten einträten. Wobei man fragen kann, ob ein Uraufführungsfestival wie Donaueschingen nicht per se eine intensivere Zusammenarbeit bedingt als der sonstige Musikbetrieb.

Für die 1945 geborene Komponistin Younghi Pagh-Paan bedeutete eine Uraufführung in Donaueschingen den Durchbruch in der Szene der Neuen Musik. Gut vierzig Jahre später schwelgt ihr Orchesterwerk „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ in Schönheit. Ein Hauch von Wagners Karfreitagszauber durchweht das sechsminütige Stück, es ist flächig angelegt, mit berührenden Dialogen zwischen Streichern und Holzbläsern, nur wenig angeschärft durch besondere Klangerzeuger, und es wurde einhellig bejubelt.

Eine Generation jünger ist Francesca Verunelli, deren „Tune and Retune II“ nach dem Konzert als herausragendes Stück des Festivals preisgekrönt wurde. Die Komponistin hat elektronische Studioklänge auf ein Live-Orchester übertragen, was gekonnt klingt und technisch versiert. Eine durchaus traditionelle Anlage – von leise zu laut, von langsam zu schnell – wird durch originelle Tonerzeugung, die sogar das gute alte Donnerblech reaktiviert, nicht ganz vor der Langatmigkeit gerettet, bis es gerade noch rechtzeitig aufregend wird: Das Klavier konterkariert jazzlaunig die lärmenden Orchesterflächen, und die enorme Kunstfertigkeit aller Beteiligten erhärtet die Substanz des gut viertelstündigen Werks.

Mehr Geduld ist bei Steven Kazuo Takasugis Konzert für Klavier, Orchester und Elektronik gefragt. Rund fünfzig Minuten dauert das, und Ingo Metzmacher am Dirigentenpult, der exzellente Pianist Roger Admiral und das Orchester haben viel zu tun. In drei Sätzen mit fast fünfzig Unterabschnitten tönt manches wie improvisiert, vieles wiederholt sich, und paradoxerweise wirkt die wuselnde Detailfreudigkeit weniger vielfältig als die eingeschobenen Klangflächen, die sich in ihrem Verlauf nur minimal verändern. Gegen Ende tobt ein wahrer Höllenlärm, dann verhaucht das Stück zart und wird mit kraftvollen Buhs bedacht, bevor laute Ovationen den Protest übertönen.

Gemessen an den Ideen in puncto neuartiger Zusammenarbeit war in diesem Konzert die konventionelle Trennung von Schöpfung und Ausführung eindeutig. Steven Kazuo Takasugi gab im Pausengespräch sogar zu, ein Kontrollfreak zu sein – jede Sekunde der zugespielten Elektronik ist vorproduziert, Dirigent und Pianist werden via Ohrstöpsel durch sein Werk geführt. Gerade bei großen Orchesterwerken wird der Weg zur gewünschten Collaboration wohl ein weiter sein, und ein steiniger dazu.

Foto: Dirigent Ingo Metzmacher, Nachweis SWR/Donaueschinger Musiktage

Konzertaufzeichnungen und weitere Infos: https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/donaueschinger-musiktage/index.html


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Aktuelle Beiträge

  • Alte Liebe
    Zum ersten Mal in der 56-jährigen Geschichte der King’s Singers sitzt ein König auf dem britischen Thron. Holger Schneider ließ sich überzeugen, dass „die Königlichen“ ihren Namen wirklich noch verdienen.
  • Balance aus Pracht und Maß
    Mit dem Kammerchor und dem Barockorchester Stuttgart hat Frieder Bernius erneut eine Messe und weitere Werke von Jan Dismas Zelenka auf CD herausgebracht. Susanne Benda ist hellauf begeistert.
  • 200 gut singende Leute als Basis
    Der Schweizer Komponist Klaus Huber wäre am 30. November 2024 einhundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass gibt es in der Bad Cannstatter „Musik am 13.“ Hubers Werk „Sonne der Gerechtigkeit“. Die Kesseltöne haben den künstlerischen Leiter Jörg-Hannes Hahn dazu befragt.
  • Das Herbsträtsel: Wer schrieb das?
    Sie waren mehr als Freunde, mehr als Vertraute, mehr als Verbündete und mehr als Liebhaber. Wenn Beziehungen ein Puzzle sind, dann war ihres von Anfang an vollständig.
  • Die Kesseltöne lesen: Die große Versuchung
    Weil zwei Konzerte abgesagt wurden, haben Ute Harbusch und Petra Heinze den jüngsten Roman des peruanischen Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa gelesen. Wäre Live-Musik ergiebiger gewesen?