Heute in Stuttgart, morgen in Essen – Katrin Zagrosek, Foto: Matthias Baus
Katrin Zagrosek, seit 2018 Intendantin der Bachakademie Stuttgart und zuvor bei mehreren Musikfestivals tätig, wechselt 2023 zum Klavier-Festival Ruhr und wird 2024 dessen Intendantin. Jürgen Hartmann hat mit ihr über Inhalte und Wandlung des Festivalbegriffs gesprochen.
Jürgen Hartmann: Frau Zagrosek, was bedeutet „Festival“ heute?
Katrin Zagrosek: Allgemein formuliert, ist ein Festival die Möglichkeit einer verdichteten Erfahrung, sei es mit mehreren Konzerten in einem kurzen Zeitraum, sei es in der Fokussierung auf ein Thema oder einen Interpreten, sei es im besonderen Erlebnis. Konkret ermöglicht der Festivalrahmen eher, mit Konzertformaten zu spielen, weil man weniger an die Vorgaben des normalen Konzertbetriebs gebunden ist.
Jürgen Hartmann: Sie kamen von den Niedersächsischen Musiktagen zur Bachakademie mit ihrem Musikfest und wechseln nun zum Klavier-Festival Ruhr. Welche Rolle spielten und spielen die jeweilige Stadt oder Region für die Programmplanung?
Katrin Zagrosek: Die spielen eine starke Rolle. Ein Festivalprogramm entfaltet sich vor dem Hintergrund einer regionalen Mentalität, aber auch im Verhältnis zum jeweils existierenden Konzertangebot und zu den Publikumsgewohnheiten. Bei den Niedersächsischen Musiktagen war die Besonderheit, dass man das Programm auf ein großes, heterogenes Bundesland ausrichten konnte. Das Ruhrgebiet erlebe ich dagegen als homogener, als eine große Metropolregion. Man kann die Mentalität eines Landstrichs oft schwer in Worte fassen, man muss sie eher erspüren. Auf jeden Fall muss man viel mit den Leuten reden! Vertrauen ist ein wichtiges Element, zu den Förderern ebenso wie zum Publikum.
Jürgen Hartmann: Die Konzertformate werden immer vielfältiger, das ist auch beim Musikfest Stuttgart so. Geht das auf Kosten der traditionellen Formate, ist das althergebrachte Sinfoniekonzert, gegebenenfalls mit Chor, ein alter Hut?
Katrin Zagrosek: Nein, diesen Hut halten wir hoch. Viele musikalische Werke brauchen eine ruhige Rezeption, eine vollständige Wiedergabe, einen abgedunkelten Saal. Neue Konzertformate sollten auch keine Eintagsfliege sein, sondern auf Dauer den etablierten Formen ebenbürtig. Vor einigen Dekaden war mein Ansatz noch der, mit einem Kurzkonzert den Besuch des traditionellen Formats anzuregen. Heute sehe ich die Qualität in der Vielfalt unterschiedlicher, nebeneinanderher existierender Angebote, die damit auch die gesellschaftliche Vielfalt der Publikumskreise spiegelt. Das verlangt auch nach einer differenzierten Kommunikation und nicht zuletzt braucht man auch ein vielfältiges Macherteam, wenn man ein vielfältiges Programm anstrebt.
Jürgen Hartmann: Bildet die Tendenz zur Auffächerung des Konzertbetriebs die oft beschworene Spaltung der Gesellschaft ab und beschädigt somit die Idee des Konzerts als Gemeinschaftserlebnis?
Katrin Zagrosek: Nein, es ist ja immer ein gemeinschaftliches Erlebnis, ob kurz oder lang, in großem oder intimem Rahmen. Natürlich reflektiert eine Vielfalt von Konzertformaten die Vielfalt der Besucherkreise. Mehr Menschen erreichen heißt heute unterschiedliche Menschen erreichen, im Hinblick auf Alter, Einkommen, Religion und vieles mehr. Aber ein gemeinschaftliches Erlebnis und die soziale Interaktion, die im Konzertbesuch stattfindet, ist für sehr viele Menschen der Treiber für die physisch und live erlebte Musikerfahrung.
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