Der Pianist Alexandre Kantorow (Foto: Sasha Guzov/Agentur Diane du Saillant)
Ein Konzert, zwei Rezensionen. Das SWR-Symphonieorchester spielt mit Teodor Currentzis und dem Pianisten Alexandre Kantorow Werke von Messiaen, Brahms und Bång in der Stuttgarter Liederhalle. Susanne Benda hört im Beethoven-Saal zu, Jürgen Hartmann vor dem Bildschirm.
Mit dem Streaming hat es eine besondere Bewandtnis, denn auch die beste Bildregie ist manipulativ, und selbst das Ohr wird beengt: Gehört das Soloklavier im 2. Klavierkonzert von Johannes Brahms klanglich nicht doch so sehr zum Orchestertutti, dass man es über weite Strecken eben nicht als virtuos gespieltes Einzelinstrument wahrnehmen sollte? Die Tonregie macht’s möglich, oder eben auch nicht.
Dass man den fabelhaften Pianisten Alexandre Kantorow genauer beobachten kann, ist allerdings eine feine Sache, und wenn dann noch die Katze den Bildschirm inspiziert und aufmerksam den Brahms-Kantorow-Tönen lauscht, ist es eigentlich doch ganz gemütlich.
Am Anfang stand allerdings Olivier Messiaens Frühwerk „Les offrandes oubliées“, streckenweise fast unglaublich durchsichtig musiziert, ganz sicher ein Dokument der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Und doch konnte man dieses 1930 entstandene Werk nicht unbefangen hören; nicht am Tag nach der Veröffentlichung eines Gutachtens, das erschütternd die Machenschaften der katholischen Kirche beschreibt.
Wider die sündige Welt“ richte sich Messiaen, steht im Programmheft, und das Abendmahl, das auf die vom Komponisten in harscher Klanggewalt beschriebene Sünde folgt, evoziere eine „kunstvoll stilisierte Atmosphäre religiöser Reinheit und Verklärung“, deren Ergebnis „vollkommene Harmonie“ sei. Ja, das klingt wie beschrieben. Und nein, es ist eigentlich hier und heute kaum zu ertragen.
Mit seinem 2. Klavierkonzert von 1881 stellt Johannes Brahms alle Beteiligten vor gewaltige Aufgaben. Das Werk quillt über vor Virtuosität, Melodik, detailreicher motivisch-thematischer Arbeit und nicht zuletzt Diskontinuität. Die vielen überraschenden Wendungen stellte Teodor Currentzis am Dirigentenpult deutlich aus, die starken Klangballungen wurden recht hitzige Momente, in denen das Orchester nicht immer seine Höchstform hören ließ. Faszinierend war der Kontrast zu den Momenten reinster Kammermusik insbesondere am Anfang des dritten Satzes, wo Currentzis, Kantorow und der Solo-Cellist Frank-Michael Guthmann allen Brahms-Freunden den siebten Himmel öffneten.
Schließlich Malin Bångs vom SWR-Symphonieorchester 2018 in Donaueschingen uraufgeführtes Werk „splinters of ebullient rebellion“: Für die 1974 geborene Schwedin könne „praktisch alles zu Musik werden“, heißt es im Programmheft, und wahrhaftig: Eine Waschbürste reibt an Styropor (dessen Klangmöglichkeiten überhaupt gerne genutzt werden), einige Musiker tippen auf Schreibmaschinen, und auch eine Spieluhr mit Lochstreifen kommt zum Einsatz.
Dass sich Musik mit dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv befasse, ist nicht viel mehr als ein Allgemeinplatz und überzeugt nicht recht als Begründung für die zwanzigminütige Mischung aus Geräuschen und Zwischenrufen, die man aufgrund der FFP2-Masken der Musiker*innen gar nicht verstand. Ist es eine Art Gesang, oder ist es nur Geplapper (denn Malin Bång rekurriert ausdrücklich auf die vielstimmigen sozialen Medien unserer Zeit)?
Ein erheblicher physischer Aufwand wird betrieben für ein zunächst überraschend alltäglich wirkendes Ergebnis. Und doch: Denkt man am nächsten Morgen erneut über dieses ungewöhnliche Werk nach, erinnert man sich an eine eigenwillige, berührende Poesie, die diese „Splitter einer aufwallenden Rebellion“ eben auch enthalten. Eine „fragile Kommunikation“ gestalte sie hier, erklärt die Komponistin. Und eine mit offenem Ergebnis, möchte man hinzufügen.
Jürgen Hartmann
Über Teodor Currentzis, seit 2018 Chef des SWR-Symphonieorchesters, gibt es zwei große Vorurteile. Das erste: er stelle sein Ego stets über die Musik. Das zweite: er könne keine Neue Musik dirigieren. Beides hat der russisch sozialisierte griechische Exzentriker beim jüngsten Konzert seines Orchesters in der Stuttgarter Liederhalle eindrucksvoll widerlegt. Und mit dem Pianisten Alexandre Kantorow an seiner Seite außerdem bewiesen, dass Johannes Brahms‘ zweites Klavierkonzert mitnichten ein Konzert gegen den Solisten ist. Im Gegenteil.
Schon Beethoven hat in seinem fünften Klavierkonzert den Mann am Flügel und das Orchester symphonisch zusammengebracht, ohne einer Seite Gewalt anzutun, und Brahms folgt ihm vor allem mit seinem zweiten Klavierkonzert nach. Das macht Currentzis deutlich. In Zeiten, in denen das Individuum sein Verhältnis zur Gesellschaft infrage stellt und neu definiert, liefert seine ein Modell für eine Kommunikation, die gelingen kann, wenn eine Idee da ist, ein Thema und ganz viel Klarheit. Dann können der Einzelne und die Menschen um ihn herum einen gemeinsamen Weg so traumwandlerisch gehen, wie es jetzt im Andante von Brahms’ Opus 83 zu hören war. In diesem vielleicht schönsten Satz der sinfonischen Literatur mixt Teodor Currentzis die Klangfarben Raffinesse und Feinheit. Die Klarinetten geben im Pianissimo dem Pianisten Raum, der erste Preisträger des Tschaikowsky-Wettbewerbs von 2019 tönt am Flügel seine perlenden Läufe so dezent ab, dass die Fagotte ebenso zu hören sind wie die Akzente des fein singenden Solocellisten Frank-Michael Guthmann und die ins kaum mehr Hörbare geführten Streicher.
Von der oft kolportierten Entmachtung des Solisten durch Brahms hört man hier nichts. Es geht um einen gemeinsamen Weg, und den beleuchtet der Dirigent hell – mal mit rasanten Tempi und viel Sinn für Tänzerisches (im Finalsatz), mal mit durchaus grell blitzenden Klangfarben und betont präzisen Bläser-Registrierungen (wie im Scherzo). Dickflüssig klingt überhaupt nichts. Für Currentzis ist die Masse ein Konglomerat von Einzellinien, die er mit spürbarer Liebe modelliert.
Auch das 2018 in Donaueschingen uraufgeführte Orchesterwerk „Splinters of ebullient Rebellion“ („Splitter einer aufwallenden Revolution“) der Schwedin Malin Bång reflektiert das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, und Currentzis verleiht der sehr körperlich wirkenden, die Musiker oftmals förmlich streichelnden Musik ein packendes Mehr an Expressivität. Zwischen dem Klappern alter Schreibmaschinen und singenden wie sprechenden Orchestermusikern, Strengem und Spielerischem spannt sich ein dichter Bogen.
Olivier Messiaens „Les offrandes oubliées“ („Die vergessenen Opfergaben“) ergänzt das musikalisch-politische Portfolio mit Spiritualität und einer Erlösungssehnsucht, die an die Gralswelt von Wagners „Parsifal“ erinnert. Ein ebenso berührender wie erhellender Abend auf höchstem Niveau, der mit allen Vorurteilen aufräumt.
Susanne Benda
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