Aus Befremden wird Verständnis: Ein Feriendorf ist etwas typisch Französisches, zum Französischsein gehört das Talent zum Kollektiv. Von diesem Baguette könnte man sich in Sachen Urlaubs- und Alltagskultur eine knusprige Scheibe abschneiden, findet Ute Harbusch.
Zwei Euro kostet ein verlorener Kaffeelöffel, 15 Euro ein Kopfkissen, und sollte der Fernseher fehlen, würden 150 Euro fällig. Die vollständige Inventarliste ist an der Tür zum Küchenschrank angebracht. Reklamationen seien innerhalb von 24 Stunden vorzubringen, heißt es dort, jede spätere Beanstandung in Bezug auf die Wohnung oder die Ausstattung werde als ungültig betrachtet. Auf dem Esstisch liegt ein Pflichtenheft, das auflistet, was beim Auszug alles zu erledigen ist: Küche säubern, Kühlschrank abtauen, Betten abziehen, die gestellte Wäsche im dafür bereitgehaltenen Wäschesack an der Rezeption abgeben. Check-out ist um 10 Uhr, bei zu spätem Auschecken wird ein zusätzlicher Tag berechnet.

Typisch französisch – allerdings nicht gerade ein uriges bretonisches Landhaus.
Meine Familie und ich besitzen viel Erfahrung mit Ferienwohnungen, aber dieser harsche Ton begegnet mir zum ersten Mal. Er flößt mir Furcht und Befremden ein. Tatsächlich sind wir nicht einfach in einer Ferienwohnung untergekommen, sondern in einem Feriendorf, einem französischen, um genauer zu sein. Unsere kleine Wohnung besteht aus der Wohnküche, unten, und dem Schlafzimmer, oben, und ist eine Doppelhaushälfte. Zu unserer Nr. 75 spiegelverkehrt angeordnet und eingerichtet ist die Nr. 76. Insgesamt umfasst die Anlage 82 Einheiten, also 41 Gebäude. Hinter jeder Haushälfte stehen identische Gartenmöbel und Sonnenschirme. Das Gelände ist terrassiert, die Häuser sind in Reihen stufenförmig angeordnet, der Platz dazwischen ist eng. Eine schüttere Hecke trennt unsere Terrasse vom Zugangsweg zum nächsten, tiefer gelegenen Doppelhaus, eine Holzwand von der des Nachbarn.
Das urige bretonische Landhaus sieht anders aus. Und doch ist auch unsere Unterkunft typisch französisch, ist das Feriendorf ein charakteristischer Bestandteil der französischen Urlaubskultur, wie ich, mein Befremden bannend, im Internet erfahre. Während in Deutschland Ferienanlagen vornehmlich von Gesinnungsgemeinschaften wie Christen und Naturfreunden betrieben werden oder als reine Wirtschaftsunternehmen funktionieren, genießen sie in unserem Nachbarland staatliche Förderung. Seit den 1960er Jahren unterstützt die französische Regierung den Bau solcher „villages de vacances“, um preiswerten Urlaub zu ermöglichen und die ländlichen Regionen wirtschaftlich zu beleben. Freilich gibt es Urlaubsclubs, Centerparks und Holidayresorts jeglicher Couleur inzwischen in aller Herren Länder. Aber ist und bleibt nicht die Mutter sämtlicher Feriendörfer der „Club Méditerranée“, eine französische Erfindung also, die 1950 ins Leben gerufen wurde (wenn auch von einem Belgier auf Mallorca)?

Man erträgt die Mitmenschen nicht nur,
man hat sie gern in seiner Nähe.
Woher rührt die Affinität der Franzosen zu dieser Urlaubsform, frage ich mich. Auf der Heimfahrt dämmert mir, dass es mit ihrem Talent zum Kollektiv auf engstem Raum zusammenhängen könnte, stellt doch das Verstauen der Reisenden und ihrer Gepäckstücke im notorisch engen TGV jedes Mal nicht nur ein beachtliches physikalisches, sondern zugleich soziales Kunststück dar. Beim Metro-Umstieg während der Rushhour in Paris, der am dichtesten bevölkerten Stadt Europas, ist kein ungehaltenes Wort zu hören, im Gegenteil: „Pardon“, entschuldigt sich höflich bei mir die Dame, die ich angerempelt habe. „Pas de problème“, sagte ebenso höflich der Monsieur an der Rezeption unseres Feriendorfes, als ich den Wäschesack am Abreisetag mit einer Verspätung von 15 Minuten ablieferte. So könnte es sein: Soziale Politesse innerhalb eines streng geregelten Rahmens macht es möglich, dass man seine Mitmenschen nicht nur erträgt, sondern gerne in seiner Nähe hat.
Fotos: Ute Harbusch
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