Das Ensemble Accademia degli Affetti der Musikhochschule Stuttgart führte unter Lars Schwarze Scarlattis „Cain, overo Il primo omicidio“ (Kain oder Der erste Mord) auf. Ute Harbusch war dabei und sprach mit Petra Heinze darüber.
Petra Heinze: Liebe Ute, Du warst bei einem Oratorium für sechs Stimmen, Streichorchester und Basso continuo. Wie klang das, so ohne Chor?
Ute Harbusch: Den Chor habe ich kein bisschen vermisst. Es gab auch keinen Erzähler. Das ganze Geschehen entwickelte sich im Dialog. Die sechs Rollen waren Adam und Eva (Daniel Schmid, Anna-Maria Wilke), Kain und Abel (Leandra Nitzsche, Rocío Crespo), Gott und Luzifer (Jasmin Hofmann, Hans Porten). Im Prinzip war es also eine Oper: spannende Handlung, große Gefühle, virtuoser Gesang. Scarlatti hat auch im geistlichen Fach – sein Kains-Oratorium entstand 1707 für Venedig – alle Register seiner Kunst gezogen. Die Geschichte des „ersten Mordes“ der Menschheit wird aus der Sicht der Gefühle erzählt, als Familiendrama mit besorgten Eltern und eifersüchtigen Geschwistern. Kain ist von Anfang an ein Fiesling, er kann seinen braven Bruder einfach nicht leiden, und das ist der Grund, warum Gott Kains Opfergabe verschmäht. Plastische Accompagnato-Rezitative und ausdrucksvolle Arien geben den Figuren Gelegenheit, ihr Inneres nach außen zu kehren. Das ist mitreißend und allemal berührender als eine theologisch-moralische Belehrung.
Petra Heinze: Die Ausführenden sind ein Ensemble von der Stuttgarter Musikhochschule. Kamen die Studierenden mit der Musik zurecht und wie schlug sich Lars Schwarze als deren Leiter?
Ute Harbusch: Accademia degli Affetti, also Schule der Gefühle, nennt sich das Ensemble, eine neue Initiative der historisch informierten Aufführungspraxis, deren jährlichen Abschluss die Aufführung eines größeren Werks des 17. oder 18. Jahrhunderts bildet. Die Gesangssolist:innen und die Instrumentalist:innen haben ihre durchweg virtuosen Partien sicher beherrscht. Nach einer Weile trauten sie sich auch, das Mezzoforte zu verlassen und die ganze Skala des Ausdrucks auszureizen, von besänftigend zart bis wüst auftrumpfend. Den Streichern wurde eine Blockflöte colla parte beigesellt und die Continuo-Gruppe bekam durch zwei Celli, ein Violone und zwei Theorben eine schöne Tiefe. Zugleich war unsere Aufführung die Abschlussprüfung von Lars Schwarze im neuen Master-Studiengang „Maestro al Cembalo“, als der er sich unstrittig bewiesen hat. Vom Instrument aus hat er die Aufführung souverän geleitet und immer wieder durch kurze Vor- und Zwischenspiele bereichert sowie in den rein instrumentalen Sinfonien für die nötige Ausdrucksstärke seines Ensembles gesorgt.
Petra Heinze: Was waren die musikalischen Highlights?
Ute Harbusch: Sehr gefallen haben mir die beiden Auftrittsmusiken für Gott und für Luzifer, zwei wunderbare instrumentale Psychogramme: Durch Modulationen sich windend, finster und bedrohlich kommt nicht Luzifer, sondern Gott daher, als gestrenger, ungreifbarer Übervater. Der Sohn der Hölle dagegen gibt sich mit Theatertremolo und Unisono-Dreiklängen auftrumpfend und selbstbewusst, ein wenig schlicht vielleicht, sehr viel zugänglicher jedenfalls als sein Gegenpart. Meine beiden Lieblingsarien gehörten Eva. Sie trägt zwei große, tieftraurige Klagegesänge vor, in denen sie, als Vorläuferin von Maria, bereits auf Jesu Kreuzestod vorausweist.
Petra Heinze: Dieses Oratorium hört man nicht oft. Gab es von den Veranstaltenden Unterstützung, die dem Publikum den Zugang erleichterte?
Ute Harbusch: Tatsächlich war Scarlattis Oratorium zweieinhalb Jahrhunderte lang verschollen. In den letzten zwanzig Jahren kam es immer wieder auch zu szenischen Aufführungen. Das Libretto wird Antonio Ottoboni zugeschrieben, der viele Kantatentexte für Scarlatti gedichtet hat, aber gesichert ist die Autorschaft nicht. Offenbar war es Lars Schwarze wichtig, dass wir den Text mitverfolgen können, denn er hat das italienische Libretto mitsamt seiner eigenen, nicht immer korrekten, deutschen Übersetzung im Programmheft abgedruckt und beides auch als Übertitel auf eine Leinwand über dem Orchester projizieren lassen.
Petra Heinze: Wenn Du das Werk nochmal hören könntest, würdest Du Dir etwas anders wünschen?
Ute Harbusch: Ich könnte mir vorstellen, dass in einer zweiten oder dritten Aufführung alle Beteiligten entspannter und freier agieren. Es schien mir oft, als würde mit angezogener Handbremse musiziert. Tatsächlich hätte die Premiere schon Ende Mai stattfinden sollen, musste aber abgesagt werden. So kam jetzt alles zusammen: die Prüfungssituation, der Premierendruck. Eine weitere Aufführung wäre diesem großen Projekt unbedingt zu wünschen.
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