Bildpostkarte mit Engelbert Humperdincks Kindern Edith und Wolfram, Verlag Carl Seyd, Boppard, um 1899 (Sammlung Holger Schneider)
Im Vorgriff auf ein Humperdinck-Jubiläum beschäftigt sich Holger Schneider mit den vierzehn Engeln aus Hänsel und Gretel und deren Bedeutung fürs Hier und Heute.
Ach ja, der Abendsegen, dieses unbeschreiblich schöne Schlummer-Entschwebe-Duett mit Orchester! Zaubert uns nicht allein der Gedanke an das Humperdincksche Wunderwerklein mit erstaunlicher Sicherheit ein feuchtes Filmchen auf die Pupille? Hat nicht das Drumherum wohltuend-unzählige Kinderherzen höherschlagend erfreut im spannenden Geschehen und (verhältnismäßig!) tröstlichen Ausgang der Märchenoper? Gibt es etwa einen schöneren Beweis grenzenloser gemeinsamer Zustimmung zum Bühnengeschehen als bei der Befreiung der Lebkuchenkinder in Hänsel und Gretel? Schon den ganzen Dezember hab ich (mal wieder) meinen Ohrwurm, und diesmal wird er gehütet: 2021 ist schließlich Humperdinck-Jahr: 100 Jahre tot, naja…
Der Sache mit den vierzehn Engeln aber wollte ich auf den Grund gehen: Kindergebet, schon zu Luthers Zeit bekannt, überliefert in Des Knaben Wunderhorn. Einigermaßen geläufig war mir noch aus Jugendzeiten, dass es Pate stand für Dietrich von Bonhoeffers Gedicht Von guten Mächten wunderbar geborgen, kurz vor Weihnachten 1944 aus dem Berliner Gestapo-Gefängnis als Weihnachtsgruß an seine Verlobte geschrieben. Engel als gute Mächte: ein schönes Bild, das laut Umfrage in die Gedankenwelt von zwei Drittel der Deutschen Eingang gefunden hat. Wobei sich die vorherrschende Imagination der Schutzengel relativ dicht an den barocken Engelsgloriolen orientieren dürfte, jenen illustren Ansammlungen von Putten, deren Vorfahren die Kerubim und Serafim waren, eigentlich flügellose seriöse Herren in göttlichen Diensten als Lob-und-Preis-Spezialisten. Der Bezug der Engel zu den Kindern ist zwar schon in der Bibel gesetzt (Mt 18,10), doch erst seit dem 15. Jahrhundert war es üblich, die Flügelwesen mit kindlicher Physiognomie darzustellen, die Mehrheit von ihnen spezialisiert auf himmlische Orchestermusik.
Die Vierzehn nun korrespondiert mit der Tradition der 14 Nothelfer, die im Spätmittelalter erste Ansprechpartner in der Bedrängnis waren. Die Herkunft der 14 Engel scheint wiederum nicht schlüssig nachweisbar: das byzantinische Franziskuskreuz in Assisi zeigt sie in dieser Zahl; im Frühmittelalter ist von jeweils zwei Engeln aus sieben Chöre die Rede, welche Eva im Paradies zur Seite stehen; um 1400 setzt ein Künstler 14 Engel auf das Wolkenband des Hochaltars im Schweriner Dom; der Maler eines Landschaftsbildes um 1500 gruppiert 14 Putten in freier Natur um das Jesuskind; Mitte des 16. Jahrhunderts waren es 12 Engel, zu denen die beiden Führungsengel (je einer für Gut und Böse) hinzugezählt wurden. Das Gebet der vierzehn Engel wurde auch als Trostgebet gesprochen, wenn ein Kind gestorben war, wobei diese Konnotation mit Brentanos Sammlung spätestens weitgehend verlorenging. Auch Humperdinck sieht seine vierzehn Engel ganz märchenhaft als gute Mächte, die Gretel und Hänsel beschützen (ein Schicksalsschlag sollte der Familie einige Jahre nach der Vollendung der Oper das kleine Töchterchen Olga entreißen).
Leute, wir brauchen die Engel, dringender denn je – vierzehn mindestens für jedes Menschenkind! Drum ruft, singt, wünscht und hört sie herbei! Wie? – Das weiß ich leider auch nicht so genau… Helfen kann sicherlich die kerzenschimmerverstärke Wiedergabe des Abendsegens oder einer anderen Humperdinck-Musik – er hat nämlich noch viel mehr Wunderwerke geschrieben als diese eine Oper.*
Frohe und behütete Weihnachten!
* CD-Empfehlung: „Licht der Welt“ – Weihnachtslieder von Engelbert Humperdinck und Pater Willibrord Ballmann OSB; Sonja Doniat (Sopran), Seung-Jo Cha (Klavier); Martin Frobeen Musikproduktion: LC 15272 / mfm20009
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